Das Gas der Russen, die Mikrochips der Chinesen und die Raketenabwehr der USA – Europa hat sich über Jahre in eine gefährliche Abhängigkeit verstrickt und dadurch erpressbar gemacht. Doch der EU-Sondergipfel am Donnerstag hat gezeigt, dass die Warnschüsse in Brüssel endlich gehört und ernst genommen werden. Besonders der letzte Knall von Trump riss Europa aus seiner Trägheit. Höchste Zeit – denn die Breitseiten, die in den letzten Jahren abgefeuert wurden, waren nicht gerade mild. Dass Europa über Unabhängigkeit nachdenkt, ist richtig. Doch zu glauben, Unabhängigkeit bedeute De-Globalisierung oder einen neuen Rüstungswettlauf, wäre genauso naiv wie die jahrelange Abhängigkeit von den USA, China und Russland.
„ Resilienz entsteht durch eine Vielfalt an Handelspartnern ”
— Josef Bertignoll
Wirtschaftliche und technologische Unabhängigkeit, wie sie derzeit von den EU-Staats- und Regierungschefs gepredigt wird, darf keinesfalls – wie es einige Populisten suggerieren – mit der Idee verwechselt werden, Europa könnte sich in einer modernen Festung einmauern – ähnlich wie es Trump gerade mit seinem Zollirrsinn tut. Zu sehr ist die Welt globalisiert, zu sehr die Lieferketten wie ein Spinnennetz über Kontinente gesponnen.
Hier einfach mit der Schere die Fäden durchschneiden und die Produktion zurück ins eigene Land holen, ist eine Illusion. Stattdessen geht es darum, Handelsbeziehungen klüger zu diversifizieren, nicht mehr alles auf eine Karte, eine Beziehung zu setzen. Resilienz entsteht durch eine Vielfalt an Handelspartnern und durch gezielte Investitionen in Schlüssel- sowie Zukunftstechnologien.
„ Wer unüberlegt aufrüstet, riskiert eine Eskalationsspirale ”
— Josef Bertignoll
Noch viel mehr wird dieser Tage über militärische Unabhängigkeit gesprochen. „Wir leben in einer Ära der Aufrüstung“, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diese Woche – ein Satz, der vor wenigen Jahren noch undenkbar war und nun plötzlich legitim ist. Doch militärische Abschreckung als Garant für Frieden? Das war das Mantra des Kalten Krieges – und eine gefährliche Gratwanderung. Wer unüberlegt aufrüstet, riskiert eine Eskalationsspirale, die sich irgendwann verselbstständigt. Ja zur militärischen Eigenständigkeit. Aber Milliarden in Waffen zu stecken und zugleich an strategischer Diplomatie und Krisenprävention zu sparen – das wäre ein fataler Fehler.
Europa steht an einem historischen Wendepunkt, wo die richtige Balance zwischen Selbstständigkeit und Zusammenarbeit nicht mehr nur ein Lippenbekenntnis sein darf. Dieser Weg könnte der Schlüssel für Europas Zukunft sein – sofern auch im Inneren unter den Staaten Einigkeit herrscht.
josef.bertignoll@athesia.it