<BR />Wifo-Direktor Georg Lun erklärt die Hintergründe, mögliche Folgen und erläutert, warum er auch die Landespolitik in der Pflicht sieht. <BR /><BR /><b>Herr Lun, das Wifo hat analysiert, wie sich die Südtiroler Gemeinden in den vergangenen 10 Jahren entwickelt haben, vor allem auch, was das Bevölkerungswachstum angeht. Was sind die auffallendsten Erkenntnisse?</b><BR />Georg Lun: Im Vergleich zur Studie, die wir vor 13 Jahren gemacht haben, ist auffallend, dass die Situation gleich geblieben ist. Anders gesagt: In jenen Gemeinden, die damals schon in einer schwierigen Situation waren – das sind die Randgemeinden im peripheren Raum, am Deutschnonsberg, im oberen Vinschgau und im Ahrntal –, in denen hat auch in den vergangenen 10 Jahren weiter Abwanderung stattgefunden. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-65322406_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Laut Studie ist von 2012 bis 2022 in 20 Gemeinden vor allem in diesen Bezirken die Bevölkerung zurückgegangen, im vorherigen Zeitraum 2002 bis 2012 waren es nur 13 Gemeinden. Wie ist das zu bewerten?</b><BR />Lun: Es handelt sich nicht um einen enormen Prozess. Die Bevölkerungsabnahme ist in diesen Gemeinden überschaubar – nur in wenigen Gemeinden ist der Wert hoch –, aber der langfristige Trend hat sich bestätigt. Und dagegen muss man anarbeiten, wenn man will, dass diese Gemeinden weiter bestehen können.<BR /><BR /><b>Die Abwanderung der Bevölkerung aus der Peripherie ist aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen eine der großen Herausforderungen – was wäre, würde das Phänomen fortschreiten?</b><BR />Lun: Dazu braucht man sich nur anzusehen, welche Entvölkerung in den 60er, 70er und 80er Jahren im Trentino und Belluno stattgefunden hat. Südtirol wäre dann nicht mehr Südtirol. Wenn die Menschen aus den Berggebieten abwandern und es nur mehr eine Besiedelung im Tal gibt, ist das eine Einschränkung der Möglichkeiten, die wir haben. Wir haben viele Berggemeinden, die auch die Möglichkeiten haben sollen, sich entsprechend zu entwickeln. Nicht zuletzt sind sie ein Reisenpotenzial für den Tourismus. Wenn das Berggebiet entvölkert würde, würde die Tourismusdestination Südtirol massiv an Attraktivität verlieren. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-65325250_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>In anderen Gemeinden wiederum ist die Bevölkerung deutlich gewachsen, wie etwa in Percha, Natz-Schabs, aber auch Nals und Marling. Wo sind diese Gemeinden im Vorteil? Oder machen sie etwas besser?</b><BR />Lun: Am stärksten gewachsen sind die Speckgürtelgemeinden, also die Gemeinden rund um die Städte Bozen, Meran, Brixen und Bruneck, die aufgrund der Nähe zur Industrie und den Arbeitsplätzen im Tal begünstigt sind. Zudem sind dort auch Wohnbauzonen entstanden. Die Möglichkeiten der einzelnen Gemeinden sind beschränkt, vielmehr ist deren Lage entscheidend, aber auch das Angebot an Wohnraum und Arbeitsplätzen ist wichtig. Früher hat man versucht, in funktionellen Kleinräumen Gewerbe anzusiedeln. Das wird man wieder machen müssen. Dann bleiben die Leute auch gern im ländlichen Raum, weil die Lebensqualität sehr hoch ist. Da ist die Landespolitik gefordert. <BR /><BR /><b>Neue Gewerbegebiete als Lösung?</b><BR />Lun: Nein, es hat keinen Sinn in jeder Fraktion ein Gewerbegebiet auszuweisen, wir haben ja schon 1700 Gewerbegebiete, daran mangelt es nicht. Aber die bestehenden größeren Gewerbe-Pole sollten gestärkt und weiterentwickelt werden – mit einer Mensa, einer Kinderbetreuung, einem Busdienst, einer Anbindung an das Glasfasernetz usw. Wenn man das zum Beispiel im Obervinschgau an ein, 2 Standorten hätte, wäre das ausreichend. Die Landespolitik müsste sich da an die Pläne der 60er, 70er und 80er Jahre zurückbesinnen. <BR /><BR /><BR /><b>Ein wichtiger Arbeitgeber im ländlichen Raum ist der Tourismus. Könnte das eine Option für Gemeinden sein, die mit Abwanderung zu kämpfen haben, oder ist das im Hinblick auf die zunehmenden Diskussionen zum Thema „Overtourism“ keine Lösung?</b><BR />Lun: Der Erfolg der Südtiroler Wirtschaft gründet sich unter anderem darauf, dass wir bislang immer einen gesunden Mix der Sektoren hatten. Die Probleme im Tourismus gibt es heute ja, weil er in gewissen Gebieten der dominierende Sektor ist. Tourismus ist sicher absolut positiv für den ländlichen Raum und in manchen Gemeinden kann er auch weiterentwickelt werden, aber man kann nicht erwarten, dass 100 Prozent der Bevölkerung in dem Sektor arbeiten möchten. Deshalb braucht es auch andere Angebote. Eine Monokultur, also auf einen Sektor allein zu setzen, ist daher sicher nicht sinnvoll, besser wäre, sich breiter aufzustellen. <BR /><h3> Die Studie in Kürze</h3><BR />Bereits vor 13 Jahren hat das Wifo die Entwicklung der Südtiroler Gemeinden im Hinblick auf Bevölkerung, Einkommen, Bildung usw. analysiert. Nun hat sie eine Neuauflage der Analyse für die Jahre 2012 bis 2022 vorgelegt. <BR />Die wichtigsten Zahlen: <BR /><BR />Die Gesamtbevölkerung Südtirols ist zwischen 2012 und 2022 um 4,4 Prozent auf rund 537.100 Einwohner gewachsen (von 2002 bis 2012 hatte das Plus noch 10,2 Prozent betragen). <BR /><BR />Die Anzahl der Gemeinden mit Bevölkerungsrückgang hat sich von 13 im Zeitraum 2002 bis 2012 auf 20 Gemeinden im letzten Jahrzehnt (2012 bis 2022) erhöht. <BR /><BR />Den stärksten Rückgang verzeichnete Prettau (11,3 Prozent), gefolgt von Laurein (minus 8,1 Prozent) und Martell (minus 5,7 Prozent).<BR /><BR />Dagegen hat die Wohnbevölkerung in und um die zentralen Orte sowie entlang der Hauptverkehrsachsen besonders stark zugenommen. Vor allem Percha konnte zulegen (um 16,1 Prozent) sowie Natz-Schabs (15,2 Prozent) und Vahrn (14, Prozent). <BR /><BR />Das Bildungsniveau, das Einkommen, die touristische Aufnahmekapazität und die Arbeitslosenquote sind in den vergangenen 10 angestiegen. Die Bautätigkeit bei Wohngebäuden war hingegen rückläufig. Vor allem in den Ortschaften im Speckgürtel der Städte Brixen, Bruneck und Meran sowie in einigen touristisch geprägten Gemeinden im Dolomitengebiet war die Entwicklung überdurchschnittlich.