Dieses Stück Südtirol dürfte Menschen, die nicht aus dem oberen Vinschgau stammen, nur vage bekannt sein. Der Heimatkundeunterricht ist lange her. Nur der fotogene Kirchturm inmitten des größten Südtiroler Stausees ist zu einer Art Südtiroler Wahrzeichen geworden. Für die einen bedeutet er eine Touristenattraktion, für die anderen ein Symbol für erlittenes Unrecht und Willkür der Staatsmacht. von Margit Oberhammer.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000276_image" /></div> <BR /><BR />Der Kirchturm fordert Filmemacher, Komponisten und Schriftsteller heraus. Das Bild ziert das Cover des Erfolgsromans <b>Marco Balzanos</b>„Ich bleibe hier“ und das Plakat von <b>Georg Lemberghs</b> Dokumentarfilm „Das versunkene Dorf“. Die Überflutung des Dorfes Graun durch den Energiekonzern Montecatini wurde zudem Motiv der zeitgenössischen Oper „Curon“und einer gleichnamigen Netflix Serie. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000279_image" /></div> <BR />Neuland betritt der Dramatiker <b>Thomas Arzt</b> also nicht. Er wollte es jedoch anders machen. Das Ergebnis zeigt sein Ringen um etwas Neues, um eine Perspektive irgendwo zwischen der dokumentarischen des Films und der hochemotionalen des Romans. Er erfindet die Figur einer Forscherin. Sie befragt Menschen, zeigt Fotos, sucht nach Spuren aus der Vergangenheit. Ihr distanziert-beobachtender Blick ist auch jener des Autors. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000282_image" /></div> <BR /><BR />Er wirft einen sezierenden Blick auf die Protagonisten, schlitzt ihr Inneres auf, um den Ereignissen und ihrer historischen (Nicht)Bewältigung auf die Spur zu kommen. Und verwendet einen weiteren Kunstgriff: Jede Figur der Gegenwart gibt es doppelt, als Variante in der Vergangenheit. Das klingt genauso abstrakt, wie es sich beim Zuschauen im ersten Teil des Abends anfühlt. Höchste Konzentration des Publikums ist gefordert. Auch von der Kunstsprache des Stücks, die, wenn nicht an der Rampe gesprochen, zwischendurch im Bühneninneren versickert. In manchen lakonischen Statements erinnert sie an Ödön von Horvath, an dessen Stück „Die Bergbahn“ zum Beispiel, wie „Die treibende Kraft“ vom Glauben an den Fortschritt getragen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000285_image" /></div> <BR />Das Stichwort „Fortschritt“ fällt bald an diesem Theaterabend, „A better tomorrow“ hängt als Leuchtschrift über der Bühne. Ein verstiegener Ingenieur, vom Vinschger Wind verweht und vom Rauschgift gebeutelt, schwadroniert von der Meisterleistung, von der großen Freiheit, die der See über die Bevölkerung bringen wird. <Fett>Peter Schorn</Fett> wendet den eleganten „Anzugsmensch“ (Kostüme: <Fett>Elke Gattinger)</Fett>, den städtischen Fremdkörper im Dorf, ins Skurrile. Euphorisch lässt er sich über die „heimatfrisch leuchtenden Augen“ der Einheimischen und über den Flussnamen „Athesis“ aus, ehe er sich samt seinem Assistenten Benito (<Fett>Fabian Mair Mitterer</Fett>) dem Hass der Bevölkerung durch eine sportlich inszenierte Flucht entzieht. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000288_image" /></div> <BR />Genauso ahnungslos, wohin es ihn verschlagen hat, ist der süditalienische Baggerfahrer Ernesto (<b>Daniel Wagner</b>), der seinen Doppelgänger in der Gegenwart in einem dementen Alten hat, der den ganzen Tag auf den See starrt. Die Rolle des Fabrikanten (<b>Roman Blumenschein</b>) will sich nicht recht erschließen, außer dass er sich ungeniert breit macht. Die Schauspielerinnen und Schauspieler fremdeln mit dem Text trotz größter Mühe, den Figuren Leben einzuhauchen. <b>Karin Verdorfer</b> als Wirtin Marthe, <b>Patrizia Pfeifer</b> als resolute Firmenvertretung vor Ort. Kriegsheimkehrer Kasimir (<b>Stefan Wunder</b>) erschießt die Geliebte Esther (<b>Elke Hartmann</b>) seiner Schwester Martha, dazwischen mafiöse Machenschaften im Untergrund.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000291_image" /></div> <BR /><b>Rudolf Frey</b> verwebt das Stück mit lyrischen Songs (<b>Hanenn Huber</b>). Die Inszenierung bildet einen merkwürdigen Kontrast zwischen dem aggressiven Unterton, dem Messerwetzen, das in einem Mord kulminiert, dem frenetischen Szenenwechsel und einer poetisch-lyrischen Grundstimmung. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000294_image" /></div> <BR /><b>Vincent Mesnaritsch</b> hat eine funktionale Bühne gebaut. Eine leichte Holzkonstruktion fungiert als Gasthaus, Firmenbüro, Kirchenschiff. Flaschenzüge heben die Konstruktion in die Höhe, um den steigenden Wasserpegel anzuzeigen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000297_image" /></div> <BR /><BR /><BR />Gegen Ende schüttelt der Windsurfer das Wasser aus den Ohren, lässt sich erklären, was sich unter dem See verbirgt. Eine Stimme aus dem Off fragt: „Zuschütten oder sichtbar lassen“? Ein Bauarbeiter hat Spuren gefunden, Reste einer Inschrift, eine alte Liebesgeschichte. „Zuschütten“, sagt Martha. Der Theaterabend hat sich zweieinhalb Stunden lang auf die Suche danach gemacht, was sich unter Schutt und Wasser verbergen könnte. Er hat Umrisse gezeigt. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000300_image" /></div> <BR /> <a href="https://www.theater-bozen.it/production/die-treibende-kraft/#dates" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Hier finden Sie die Termine.</a><h3> Historische Daten</h3><BR /><b>1911:</b> Erste Studien zur Nutzung der Wasserkraft<BR /><b>1920:</b> Nach der Annexion Südtirols durch Italien werden die Pläne wieder aufgegriffen. <BR /><b>1937:</b> Die faschistische Regierung forciert den Bau. <BR /><b>1939:</b> Das Projekt einer Tochtergesellschaft des Montecatini-Konzerns (Societá Elettrica Alto Adige, SEAA) wird genehmigt, jedoch noch keine Konzession erteilt. Es kommt zu ersten Enteignungen, die Arbeiten beginnen.<BR /><b>1943:</b> Konzession erteilt. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht kommen die Arbeiten im zum Stillstand. <BR /><b>Nach Kriegsende:</b> Der Bau stockt wegen finanzieller Schwierigkeiten. Die Schweizer Elektrizitätsgesellschaften bieten der Montecatini eine Finanzierung von 30 Mio. SFR gegen Lieferung von 120 Gigawattstunden Energie pro Niedrigwasserperiode (Winter, Frühjahr), beginnend ab November 1949 für 10 Jahre. <BR /><b>1947:</b> Die Einwohner werden über die Größe des Stausees und den sehr kurzen Zeitplan informiert. 7000 überwiegend in Süditalien angeworbene Arbeiter kommen zum Einsatz.<BR /> 1948/49: Die Entschädigungen werden durch eine paritätische Kommission neu festgesetzt. Recht auf Realersatz gibt es nicht. <BR /><b>1.8.1949:</b> Erste Probestauung – Die Bevölkerung empfindet die Überflutung als Provokation<BR /><b>1950:</b> Erster Vollstau <BR /><b>1973:</b> Durch Sanierungsmaßnahmen werden ca. 35 ha Kulturfläche mit Material aus dem See zurückgewonnen.<BR /><BR /><b>Folgen der Aufstauung:</b><BR />70 Prozent der Bevölkerung ist aus- oder abgewandert<BR />163 Wohnhäuser bzw. landwirtschaftliche Gebäude wurden gesprengt <BR />514 ha Kulturfläche vernichtet<BR />70 Prozent weniger Nutztiere<BR /><BR /><b>Der Stausee:</b> 6 km Länge und an der breitesten Stelle etwa ein kmBreite – Mittlere Jahreserzeugung elektrischer Energie ca. 250 Gigawattstunden.<BR /><h3> Kommentar: Die tiefe Wunde</h3><BR /><div class="img-embed"><embed id="1000303_image" /></div> <BR /><BR />Er machte Angst, der Staudamm am Reschen. Die Burgeiser, Malser, Schleiser und besonders die Glurnser trauten dem enormen Wall, der 120 Millionen m³ Wasser zurückhielt, nicht. Ich erinnere mich als Mädchen in den 1960er Jahren an heftige Sommergewitter. Jedes Mal pflückte meine Mutter im Garten ein paar „Tunderkugeln“, wie sie sie nannte, blaue Kugeldisteln, und verbrannte sie im Küchenofen. „Hoffentlich bricht der Damm nicht“, sagte sie dann und betete. Dass dieses Ungeheuer aus Beton von den Naturgewalten überwältigt werden könnte, waren viele im Dorf überzeugt. <BR /><BR /><BR />Die Schneise, die diese Wand in die Natur geschlagen hatte, war auch in den Köpfen und in den Herzen der Menschen tief drin. Die Fremden, die damals hinaufzogen in das Obere Vinschgau, um Arbeit zu suchen an der Baustelle, waren nicht willkommen. Einige Männer blieben am Ende der Arbeiten zurück, sie hatten sich verliebt, heirateten Vinschgerinnen. Im Laufe der Jahre wurden sie am Stammtisch willkommen geheißen, besonders wenn sie Jassen gelernt hatten. Doch ihre Frauen wurden im Dorf lange ausgegrenzt. „Die Walsche“ hieß es damals, wie im Roman von Joseph Zoderer... Heute ist der See mit seinem Kirchturm samt Jausenstation zur Touristenattraktion geworden. Sogar als Kulisse für einen Fantasyfilm diente er. Aber die Wunden, die die Zwangsaussiedelung hinterließ, sind noch immer nicht ganz geheilt, denn die Menschen „hatten keine Möglichkeit, Widerstand zu leisten in Zeiten der Diktatur“, wie ein Zeitzeuge erzählt.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />