<b>Das 2011 gegründete immersive Theaterensemble Nesterval versteht sich als queeres Volkstheater, das Klassiker der Literatur- oder Theatergeschichte in die Jetztzeit übersetzt, überzeichnet und dekonstruiert. Im Zentrum jeder Inszenierung steht die Lust am Spiel, das Schaffen eines theatralen Erlebnisraums und das Einbezogensein des Publikums in die Performance. Die Vereinigten Bühnen Bozen und TRANSART wagen in Zusammenarbeit mit der Wiener Bühne eine „Theater-Immersion“ hierzulande: Wie dürfe wir uns das vorstellen?</b><BR />Elisabeth Thaler: Das Theaterkollektiv Nesterval ist in der deutschsprachigen Theaterlandschaft sehr erfolgreich und bekannt für tiefgründige, politisch brisante und berührende Stücke, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurden. Die immersive Theaterform bricht die Regeln des herkömmlichen Theaters auf. Die Zuschauer nehmen nicht in einem Theatersaal Platz, sondern sind selbst Teil der Performance. Sie begleiten eine oder mehrere Figuren durch verschiedene Spielstätten, sind sehr nahe am Geschehen dran und sind herzlich eingeladen, mit den Figuren zu interagieren, falls sie das möchten. Niemand wird ausgestellt oder zum Mitmachen animiert, doch wer Lust hat, sich auf die Geschichte und die Menschen einzulassen, wird diesen Abend als ein besonderes Theatererlebnis mitnehmen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1072227_image" /></div> <BR /><b>Im Stück sind wir im Jahr 1964: Eine Hochzeit soll stattfinden, die Theaterbesucher sind die Gäste, doch statt der Hochzeit gibt es einen Leichenschmaus. Worum geht es in „Die 7 Tage von Mariahaim“ ?</b><BR />Thaler: Die junge Bauerstochter Anna-Lisa steht kurz vor der Hochzeit mit dem Knecht Giovanni. Das Publikum betritt Maria Heim, um diese Hochzeit mitzufeiern. Stattdessen trauert das Dorf um Anna-Lisa. Rückblickend erfahren die Zuschauer, was in den letzten 7 Tagen geschehen ist und welches Geheimnis Anna-Lisa lange Zeit mit sich getragen hat, bevor sie den Mut fand, das Schweigen zu brechen. Der Abend beginnt mit einer Tragödie und endet bei der Vorfreude auf das Hochzeitsfest. Das Publikum wird in der Feststimmung entlassen, wohl wissend, was passieren wird.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1072230_image" /></div> <BR /><b>Werden also diese 7 Tage im gesamten Anwesen Maria Heim erzählt?</b><BR />Thaler: (Lächelt) Der Ansitz aus dem 17. Jahrhundert hat wunderbare Räumlichkeiten, 2 Kapellen, ein Weingut und ist ein wahres Juwel mitten in Bozen. Unsere Geschichte spielt in einem Bauerndorf. Nach der Annexion Südtirols durch Italien hat sich eine Gruppe von Menschen im fiktiven „Maria Haim“ abgeschottet, lebt seitdem zurückgezogen nach eigenen Regeln und misstraut grundsätzlich allem, was von außen kommt. Das Anwesen Maria Heim wird zu diesem Dorf, die Räume werden umgestaltet. Sobald man durch das Tor schreitet, taucht man in eine völlig andere Welt ein und lernt Maria Heim als Gesamtkulisse kennen.<BR /><BR /><BR /><b>Das Theaterensemble Nesterval greift im Stück verschiedene Themen auf wie: Heimat, Fremdenfeindlichkeit oder Gewalt, aber der Kernpunkt ist das große Schweigen – für Südtirol immer ein großes Thema…</b><BR />Thaler: Das Schweigen ist diesem Stück und diesen Figuren eingeschrieben. Im bäuerlichen Ambiente wird viel geschwiegen und verschwiegen. Diese Last des Schweigens innerhalb von Familien aber auch innerhalb einer Gesellschaft macht dieses Stück auch sehr heutig und vertraut. Ich glaube, dass uns in Südtirol der Umgang mit historischen Themen gelehrt hat, lieber zu schweigen als zu sprechen. Das prägt uns als Gemeinschaft aber auch als Individuen. Und das spiegelt sich auch in Dorf- und Familienstrukturen wider, wo nach wie vor Vieles unausgesprochen bleibt.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1072233_image" /></div> <BR /><BR /><b>Im Stück gibt es 17 Schauspieler und Akteurinnen, denen man als Theaterbesucher folgen darf. Das bedeutet, dass ich zu Beginn der Vorstellung einen oder eine Schauspielerin auswähle und von ihm oder ihr gelenkt werde?</b><BR />Thaler: Die Zuschauer sind eingeladen, zunächst einer Figur zu folgen und mit ihr die Geschichte zu erleben. Sie werden von dieser Figur begleitet und gehen mit ihr in einer kleinen Gruppe von Ort zu Ort. So erfahren sie deren persönliche Geschichte und deren Sichtweise auf das Geschehene.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1072236_image" /></div> <BR /><b>Spiele ich als Besucher selbst auch eine Rolle im Stück?</b><BR />Thaler: Das Publikum ist ein wichtiges Gegenüber für die Spieler. Ohne die aktive Beteiligung des Publikums funktioniert der Abend nicht. Immer wieder werden die Zuschauer direkt angesprochen und gebeten, sich zu beteiligen. Das Ensemble ist aber sehr sensibel dafür, wer bereit ist, aktiv zu agieren oder lieber im Hintergrund bleiben möchte.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1072239_image" /></div> <BR /><b>Darf ich auch neue Wegbegleiter aussuchen und so andere Schicksale kennenlernen?</b><BR />Thaler: Um wirklich in diese Welt eintauchen zu können, wird empfohlen, längere Zeit einer Figur zu folgen. Es ist aber im Laufe des Abends immer wieder möglich, die Figur zu verlassen und sich einer anderen anzuschließen.<BR /><BR /><BR /><b>5 Schauspielerinnen und Schauspieler aus Südtirol sind auch dabei. Wer?</b><BR />Thaler: Neben den Ensemblemitgliedern von Nesterval, die bereits er der immersiven Theaterform, konnten wir <Fett>Sabine Ladurner, Lisa Laner, Markus Oberrauch, Julian Pichler</Fett> und <Fett>Frederick Redavid</Fett> gewinnen, dabei zu sein. Musikalisch begleiten wird den Abend der ansässige <Fett>Singkreis Maria Heim</Fett>. Die Chorsänger werden dabei zu fiktiven Dorfbewohnern. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1072242_image" /></div> <BR /><BR /><b>70 Szenen an 16 Schauplätzen werden in „Die 7 Tage von Mariahaim“ gespielt. Wenn ich nur einem Schauspieler folge, erlebe ich nur eine Perspektive… Man müsste also mehrmals ins Theater gehen, um verschiedene Blickpunkte zu erleben?</b><BR />Thaler: Da zeitgleich an den verschiedenen Schauplätzen gespielt wird, ist es unmöglich, alles an einem Abend zu sehen – das ist aber keine Schwierigkeit! Je nachdem welcher Figur ich folge, werde ich eine bestimmte Perspektive der Geschichte kennenlernen, andere Elemente bekomme ich nur am Rande mit. Im Anschluss gibt es die Möglichkeit, sich mit anderen über das Erlebte auszutauschen. Wer den Abend öfters erlebt, kann verschiedene Charaktere und verschiedene Handlungsstränge kennenlernen. Es gibt Nesterval-Fans, die sich eine Performance mehrmals ansehen, um nichts zu verpassen. <BR /><BR /><BR /><b>Viel entsteht im Augenblick der Aufführung und das auch noch immer wieder auf eine andere Art und Weise: Gibt es da überhaupt dramaturgische Anweisungen, ein Skript, Hintergrundinformation für die Schauspielerinnen?</b><BR />Thaler: Es gibt ein Skript von 126 Seiten, wo die Geschichte und Dialoge eingeschrieben sind, aber auch Hintergrundinformationen zu jeder Figur, ein Stammbaum des Dorfes, besondere Eigenschaften der Charaktere, Anleitungen zu Improvisationen. Jeder Spieler und jede Spielerin müssen das Dorf und die Bewohner perfekt kennen und sich die eigene Figur wie eine „zweite Identität“ überziehen. Drei Stunden lang bleiben sie in ihrem Charakter und müssen auf Fragen und Interaktionen mit dem Publikum auch reagieren können. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1072245_image" /></div> <BR /><BR /><BR />Trotzdem gibt es immer auch eine Weiterentwicklung…<BR />Thaler: Ob eine Szene wirklich funktioniert, erfährt man erst mit dem Publikum. Deshalb sind die Spieler auch frei, Dinge zu verändern oder auszuprobieren. Da das Publikum an jedem Abend neu ist, ist auch jede Vorstellung einmalig.<BR /><BR /><BR /><b>Am Ende noch 2 Fragen: Wer sich das Stück „Die 7 Tage von Mariahaim“ ansehen möchte, muss bestimmte Regeln befolgen, welche? Und warum?</b><BR />Thaler: Es gibt klare, einfache Anweisungen und Regeln, an die sich das Publikum halten muss. Vor der Vorstellung wird deshalb ein Infoschreiben an alle Zuschauer geschickt. So müssen z.B. die Handys an der Garderobe abgegeben oder in einer Tasche versiegelt werden. Zum einen gab es 1964 keine Handys zum anderen wird das Eintauchen in diese Parallelwelt dadurch intensiviert. <BR /><BR /><Fett>Termine:</Fett> Check-In innert 19.45 Uhr, Spielbeginn, 20 Uhr<BR /> 26.9., Voraufführung Transart <BR />27.9., Premiere VBB<BR />28.&29.9. Vorstellungen Transart <BR /> 2., 3., 4., 5., 10., Vorstellungen VBB, Maria Heim, Neustifterweg 5, Bozen<BR /><h3> Biografie Elisabeth Thaler</h3><BR />Geboren 1981 in Bozen, Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Germanistik an der Universität Innsbruck. 2006 Dramaturgiehospitanz am Tiroler Landestheater. Von 2007-2012 Dramaturgieassistentin, anschließend Dramaturgin an den Vereinigten Bühnen Bozen.<BR /><BR />Eva Bernhard