Der Seite der „Woken“, also der politisch Wachen und Aktiven, oder jener der „Bewahrer“. Während die einen akribisch über Anzeichen von Rassismus, Kolonialismus, Sexismus und Homophobie in Vergangenheit und Gegenwart wachen, sehen die anderen Sprach-, Rede- und Kunstfreiheit massiv bedroht, einen neuen Autoritarismus heraufdämmern. Die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl klärt auf.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="997654_image" /></div> <BR />Das Feld der Literatur scheint besonders anfällig für die Grabenkämpfe zu sein. Das Karrieregerangel, der Kampf um Positionen, Geld und Aufmerksamkeit hat mit der Cancel Culture neue Waffen entdeckt. Seien es die Curricula von Schulen und Hochschulen, Forschungsaufträge, seien es die Verlagspolitik, die Übersetzungen, die Spielpläne der Theater – wer wen auswählt, wer worüber schreibt, wer wen übersetzt oder verlegt, alles steht unter argwöhnischer Beobachtung. Dürfen Weiße Texte von Schwarzen übersetzen? Männer Texte von Frauen verlegen? Heterosexuelle homosexuelle Rollen übernehmen? Bislang unterpräsentierte ethnische, religiöse, sexuelle Minderheiten erheben ihre Stimme, sind dabei in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich, führen persönliches Verletztsein ins Feld, ohne zu berücksichtigen, dass sie mit den Cancel-Anforderungen andere verletzen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="997657_image" /></div> <BR />Im Rahmen einer Veranstaltung der „Bücherwelten“ prognostiziert <b>Jo Lendle</b>, Verleger des Carl Hanser Verlages, eine schwierige Zukunft für männliche Autoren auf Verlagssuche, möchte die Germanistin und Kabarettistin <b>Teresa Reichl</b> den Literaturkanon mit den vielen „alten, weißen Männern“ umkrempeln, plädiert <b>Daniela Strigl,</b> Literaturkritikerin und Literaturwissenschaftlerin, für literarische Qualität als wichtigstem Auswahlkriterium. <BR /><BR /><BR />Brauchen wir eine neue Debattenkultur, um aus der Sackgasse der identitätspolitischen Floskeln herauszufinden? Aus dem Schubladendenken, aus der Gefahr der Selbstzensur? Ist Wachsamkeit angebracht oder eher Gelassenheit? Vielen Dank an Daniela Strigl, die sich solchen und anderen Fragen zur Cancel Culture überzeugt und engagiert stellt. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="997660_image" /></div> <BR /><BR /><b>Frau Strigl, ist eine „moralische Panik“ ausgebrochen, wie der Literaturwissenschaftler Adrian Daub die Aufregung rund um Cancel Culture nennt?</b><BR />Daniela Strigl: Adrian Daub möchte beruhigen; es würde gar nicht so viel gecancelt, meint er. Ich hingegen finde die Aufregung sehr wohl berechtigt; es gibt zerstörte Karrieren, Entlassungen, ausgeladene Künstler. <BR /><BR /><BR /><b>Wir haben den Anglizismus samt inhaltlicher Debatte aus Amerika importiert, wo das Ganze vor ca. 30 Jahren an den Universitäten begonnen hat. Welche Rolle spielen die Universitäten bei uns?</b><BR />Strigl: Auch bei uns ist die Hochschule der Ort, wo die Diskussion multipliziert wird. Vor 20 Jahren hat man an österreichischen Universitäten noch darüber gelacht, jetzt ist die Cancel Culture bei uns angekommen. In der Literaturwissenschaft traut man sich bestimmte Texte nicht mehr zu lesen, weil sie Gefühle einzelner Menschen verletzen könnten. Da geht es oft um historische Texte, die klarerweise in einer anderen Sprache geschrieben sind, als wir sie heute verwenden würden. Die Studierenden sollten dabei genau das lernen, sie sollten lernen, dass Literatur und ihre Sprache, ihre Rezeption und Interpretation von Zeitumständen abhängig sind. Es wird heute den jungen Leuten nicht mehr zugetraut oder zugemutet, dass sie diese historische Distanz verstehen und ernst nehmen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="997663_image" /></div> <BR /><BR /><b>Novellen von Heinrich von Kleist würde man gerne mit Trigger-Warnungen versehen; „Die Verlobung in St. Domingo“ sei kolonialistisch und rassistisch, „Die Marquise von O….“ enthalte sexuelle Gewalt…</b><BR /> Strigl: Für mich hat die Sache der Kunst den Vorrang. Ich würde allemal einen unmoralischen, literarisch brisanten und interessanten Text einem zwar moralischen, aber langweiligen oder schlecht geschriebenen vorziehen. Kunst ist verstörend; wenn sie nicht verstört, einen nicht erschüttert, aus dem Gleichgewicht bringt, ist es keine Kunst, sondern eine Wohlfühlpackung. Vielleicht sollte man generell eine Trigger-Warnung aussprechen, bevor jemand ein Literaturstudium beginnt: „Achtung, dieses Studium kann Ihren Seelenfrieden gefährden!“ (lacht)<BR /><BR /><BR /><b>Bilden zu viele „alte, weiße, Männer“ – so die strapazierte Floskel – den Literaturkanon?</b><BR />Strigl: Es gibt nichts Diskriminierenderes als solche Floskeln. Natürlich haben wir im deutschsprachigen Kanon keine schwarze Literatur. Die Hofmohren des 19. Jahrhunderts waren nicht das Zielpublikum. Dass sich das jetzt ändert, ist eine Folge der demokratischen Entwicklung. Man kann Änderungen im Literaturkanon nicht mit Gewalt einführen. Es ist richtig und wichtig, das Bewusstsein für Vielfalt zu schärfen, aber es ist für mich ein Armutszeugnis, die Herkunft eines Autors in den Mittelpunkt zu stellen und nicht das Werk. Das ist das Ende der Literatur. Identitätspolitik macht die Identität erst recht zu einem Fetisch. Was können alte, weiße Männer dafür, dass sie alt, weiß und Männer sind? <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="997666_image" /></div> <BR /><BR /><b>Die Anpassung an den Mainstream geschieht öfters dadurch, dass Wörter oder Textpassagen umgeschrieben werden. Finden Sie das legitim?</b><BR />Strigl: Nicht einmal bei Kinderbüchern finde ich das legitim. <b>Christine Nöstlinger,</b> eine wirklich aufklärerische und fortschrittliche Autorin, hat sich zu Lebzeiten immer dagegen gewehrt, „Neger“ in ihren Kinderbüchern aus den 70ern umzuschreiben. Sie hat eine erklärende Fußnote vorgeschlagen. Bei Übersetzungen gibt es oft schreckliche Beispiele für Anpassung, gerade in Texten von schwarzen, kämpferischen Autoren. Diese verwenden absichtlich Schimpfwörter, um den respektlosen Umgang mit Schwarzen zu zeigen und in der deutschen Übersetzung wird dann alles entschärft. <BR /><BR /><BR /><b>Erheben die Literaturwissenschaftlerinnen zu wenig ihre Stimme? Überlassen Sie das Feld zu sehr den Pädagogen?</b><BR />Strigl: Das glaube ich auf jeden Fall. In dem Moment, wo moralische Bewertungen eine größere Rolle spielen, treten ästhetische Fragen in den Hintergrund. Vor allem kommt durch die Hintertür die gute alte Prüderie wieder herein. Da hat man jahrzehntelang dafür gekämpft, dass Jugendliche nicht bevormundet werden – Stichwort „Schmutz- und Schundliteratur“, und jetzt geht man vor wie in alten viktorianischen Unterrichtsmodellen. <BR /><BR /><BR /><b>Es geht auch um Macht, um Deutungshoheit. Wer darf über welchen Text, über welches Curriculum, über welche Übersetzung bestimmen? Philosophen wie Konrad Paul Liessmann sehen in der Macht von unten, auch in den sozialen Netzwerken, ein autoritäres Denken auf dem Vormarsch. Kann das gefährlich werden?</b><BR />Strigl: Was die Literatur betrifft, wird die Bedeutung der sozialen Netzwerke überschätzt. Die Verlage sind zu ängstlich; ein Shitstorm könnte ihnen egal sein.Aber die Gefahr des autoritären Gehabes gibt es. Andere ertappen zu wollen, bei Fehlern erwischen. Und zwar auf Seite der Liberalen. Man muss diese Gefahr erkennen und benennen. Wo ich zum Beispiel allergisch reagiere, sind sprachpolizeiliche Vorschriften an der Universität. Ich habe mich gefragt, auch öffentlich in einem Artikel, ob die übertriebene Beobachtung einer gegenderten Sprache nicht auch damit zu tun haben könnte, dass man sich weniger um Inhalte kümmern möchte. Die wirkliche Gleichstellung von Frauen ist noch in weiter Ferne, aber man verzettelt sich in Grabenkämpfen um Äußerlichkeiten. <BR /><BR /><BR /><b>Der österreichische Kabarettist Josef Hader meinte vor Kurzem in einer Philosophiesendung, die Diskussionen rund um Cancel Culture seien Luxusprobleme, dienten der Ablenkung von wirklichen Problemen. Würden Sie diese Meinung teilen?</b><BR />Strigl: Der Blick auf die politische Großwetterlage zeigt, dass die wirkliche Gefahr von den Rechtsradikalen kommt. Und die bürgerliche, als aufgeklärt geltende Mitte und Linke, übt sich in Selbstgerechtigkeit, zerfleischt sich in Alibidiskussionen, statt sich tatsächlich um die wirklichen Probleme zu kümmern.<BR /><BR /><BR /><b>Wäre eine „von Herzen kommende Gleichgültigkeit“ gegenüber der Erregung um die Cancel Culture, wie sie der Literaturkritiker und Autor Ijoma Mangold für sich entschieden hat, eine Option?</b><BR />Strigl: Nein, ganz entschieden nein! Wenn man sich in Gelassenheit übt, überlässt man jenen, die einem Vorschriften machen wollen, das Feld. Ich glaube, jede Geisteswissenschaft, die mit Literatur und Kunst zu tun hat, sollte für die Freiheit der Kunst ihre Stimme erheben. <h3>Zur Person: Daniela Strigl</h3><BR /><div class="img-embed"><embed id="997669_image" /></div> <BR /><BR />Geboren 1964 in Wien, studierte sie Germanistik in Wien und promovierte über Theodor Kramer. Sie publiziert Essays und Kritiken in überregionalen Medien wie Der Standard, Die Presse und Literatur und Kritik. Seit 2007 lehrt sie an der Universität Wien Neuere deutsche Literatur. Für ihre literarischen Kritiken wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. <BR /><BR />Sie veröffentlichte unter anderem Biografien von Marlen Haushofer und Marie von Ebner- Eschenbach. Zwischen 2003 und 2014 war Daniela Strigl Jurorin des Ingeborg-Bachmann-Preises. Sie ist Mitglied der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse und den Franz-Tumler-Literaturpreis. Seit 2023 ist Daniela Strigl Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. <BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />