Christine Vescoli versucht zu verstehen; sie rekonstruiert das Leben der Mutter, Bruchstück für Bruchstück und erzählt in einprägsamen Sprachbildern leise, tastend, trauernd mit einer Klarheit, die der genauen Beobachtung geschuldet ist. Ein Gespräch mit der Autorin. <b>Von Heidi Hintner</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1003622_image" /></div> <BR /><BR />Ihr Buch ist verdinglichtes Leben, wie <b>Hannah Arendt</b> sagen würde: „Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens […], besteht darin, dass es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem menschlichen Leben zukommt, und die, wenn sie aufgezeichnet, also in eine Biographie verdinglicht wird, als ein Weltding weiter bestehen kann.“ (Hannah Arendt: „Vita activa oder Vom tätigen Leben“, S. 116)<BR /><BR /><BR />„Mutternichts“ gehört für mich in die Reihe großer Mutter-Tochter-Bücher oder Mutter-Abschieds-Bücher: <b>Annie Ernaux'</b> „Eine Frau“ ist ein kurzes Requiem, das die Literaturnobelpreisträgerin 2 Wochen nach dem Tod ihrer Mutter zu schreiben beginnt. „Das Leben meiner Mutter“ von <b>Doris Lessing</b> ist ein persönliches Erinnerungsbuch der großen englischen Erzählerin, eine nachdenkliche Auseinandersetzung mit 2 eigenwilligen Frauen – ihrer Mutter und sich selbst.<BR /><BR /><BR /><b>Simone de Beauvoir</b> beschreibt in „Ein sanfter Tod“, wie sie tage- und nächtelang am Sterbebett ihrer Mutter weilte und wachte und ihr am Ende näherkam. <Fett>Sylvie Schenk</Fett>, die mit ihrem Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 stand, erzählt von Herkunft und Prägung und nähert sich in „Maman“ ihrer Mutter an. Sie rettet sie aus dem Nichts, schöpft aus dem Nichts und macht ihr „einen luftigen Sarg aus Worten“. Mutter-Töchter-Bücher zwischen Vertrautheit und Entfremdung, Nähe und Abwesenheit, Frage und Antwort oder Nicht-Frage ohne Antwort. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1003625_image" /></div> <BR /><h3> Nachdenken über „Mutternichts“</h3><?Einzug EinzugAbsatz="0ru"> <BR /><BR /><b>Die kürzlich verstorbene österreichische Autorin Ingrid Strobl hat ein Buch mit dem Titel „Ich hätte sie gerne noch vieles gefragt“ geschrieben. Dieser Satz passt auch zu Ihrer Geschichte…</b><BR /><?_Einzug> Christine Vescoli: In Ingrid Strobls Buchtitel schwingt der Wunsch mit, die Mutter möge zurückkommen, um der Tochter noch dies und jenes zu beantworten. Für mich ist die Vorstellung, Mutter noch etwas zu fragen, sinnlos. Meine Mutter hat bestimmte Fragen ein Leben lang ausgeschlossen. Wäre das anders, wenn sie jetzt da wäre? Ich glaube nicht. So paradox es klingt: Die Möglichkeit, bestimmte Fragen an sie zu richten, wurde erst durch ihren Tod frei gesetzt. Das ist genau der Punkt, der mich zu diesem Buch geführt hat, samt den Fragen, die an mich selbst gerichtet sind. Warum habe ich nicht gefragt? Warum erst jetzt? Im Leben meiner Mutter gab es viel Verborgenes, das ich durch Schreiben erst regelrecht herstellen musste. Ich musste mir buchstäblich, fast wie eine Einbrecherin, Zugang verschaffen in all das, worüber sie nicht geredet hat. Nicht, weil sie die Worte dafür nicht hatte – die hatte sie sehr wohl, sie war keine Sprachlose, der ich im Nachhinein eine Stimme geben muss –, sondern weil sie das Reden darüber über ihre Schmerzgrenze hinaus gebracht hätte. Das Schreiben hat mich an einen Punkt geführt, an dem mir klar wurde, dass Mutters Geschichte nicht nur ihre Geschichte ist, sondern irgendwo auch meine eigene. <BR /><BR /><BR />Was erzähle ich, wenn ich von Mutter erzähle? Was kann ich überhaupt erzählen? Wer bin ich und was tue ich, wenn ich erzähle? Im Schreiben stelle ich die Beziehung zu einer Geschichte ja auf eine eigene Weise her, nämlich durch die Sprache, die für die Problemstellung dessen, was war und was wahr ist, Möglichkeiten der Gestaltung und Verwandlung ebenso wie Lücken, Tücken und Fallen bereitstellt. Die Sprache ist das Material für die Form, mit der ich versuche, meiner Wahrnehmung und Empfindung möglichst nahe zu kommen. Was bedeutet: Mein Buch ist Literatur, nicht Biographie. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1003628_image" /></div> <BR /><BR /><b>Ihr Romandebüt, das Ende Februar erschien, beginnt mit dem Satz: „Mutter schlug die Augen nieder, wenn sie nachdachte und in sich verschwand.“ Sie driftete nach innen ab; wohin verschwand sie denn und warum musste sie verschwinden?</b><BR />Vescoli: Ich hoffe, dass das Buch das spürbar macht. Es ist u.a. das, was ich das Nichts, das Mutternichts, nenne. Das ist nicht das existenzialistische Nichts, das wir von der Philosophie der Moderne her kennen, keine abstrakte Einheit. Ich glaube auch nicht, dass es mit einer psychologischen Erklärung fassbar wäre, zumindest interessiert mich das nicht. Es ist vielmehr eine menschliche Dimension, die viele, die sich nicht bis auf die Zähne mit vermeintlichem Selbstbewusstsein bewaffnen, kennen, eine Bedrohung, die das innerste Wesen eines Menschen angreift und gefährdet und dem Leben manchmal hintertückisch an die Gurgel geht. Es ist auch die radikale Infragestellung dessen, was man eigentlich so tut, wenn man tut, was man immer tut, und es geht nicht zusammen mit dem, was man ist. Die Mutterfigur des Buches wusste darüber Bescheid. <BR /><BR /><BR /><b>Ihre Hauptfigur kannte eine Angst, die für sie allein ausreichte und die mit der Ich-Erzählerin aufhören musste. Die Geister der Vergangenheit sind furchterregend, aber auch bezwingbar: Von welcher Angst schreiben Sie?</b><BR />Vescoli: Die Geister sind bezwingbar, die Angst nicht. Angst ist eine Grunderfahrung und, wenn sie nicht als Machtinstrument missbraucht und manipulativ eingesetzt wird, etwas Fundamentales, nichts Verwerfliches, das es zu eliminieren gilt. Die Angst hält uns unruhig und wachsam, sie warnt uns. Etwas stimmt nicht, sagt sie. Dann ist sie die Kraft, um im rechten Moment zu springen. Wenn wir aber nicht genau zuhören, was sie sagt, und es versäumen, was damit zu tun ist, wenn wir sie nicht ernst nehmen, dann hat sie uns in der Hand und es wird schlimm mit ihr und mit uns. Dann wird sie stärker als das Nichts, das das Buch zu umkreisen versucht. Sie wird selbst zum Nichts. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1003631_image" /></div> <BR /><BR />I<b>m Mai 2017 verstarb Ihre Mutter; konnten Sie diesen Mutter-Tochter-Roman erst nach ihrem Tod schreiben? „Mutternichts“ wirkt auf mich wie ein Befreiungsbuch, teilweise beklemmend, es erzählt auch von Moderndem. Wenn Sie es definieren müssten: Was ist „Mutternichts“ für ein Buch?</b><BR />Vescoli: Wenn ich es definieren könnte, hätte ich es nicht geschrieben. <BR /><BR /><BR /><b>Heute gibt es einen Trend, autofiktional zu schreiben. Schreiben Sie also auch über Ihr eigenes Leben oder erfinden Sie Ihre Figuren?</b><BR />Vescoli: Die Autofiktion ist tatsächlich en vogue und mit der französischen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux noch einmal stärker geworden, nachdem sie in den 70ern zum modernen Erzählverfahren erklärt worden ist, nicht ganz frei von Abwertung. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so genau, was damit gemeint ist. Die Erzählung des eigenen Lebens oder von Ausschnitten davon, vermischt und aufgeladen mit erfundenen Elementen, ist ja kein neues Phänomen. Vielleicht knüpft die Autofiktion diese Verbindung besonders eng. Aber im Grunde erzählen jeder Autor und jede Autorin, die aus der eigenen und unmittelbaren Erfahrung schöpfen und zurück greifen auf Erlebtes, vom eigenen Leben.„Madame Bovary das bin ich“, hat Flaubert gesagt.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1003634_image" /></div> <BR />Die Frage ist, ob das Erlebte so dargestellt wird, dass es nicht nur von und für sich alleine spricht, sondern darüber hinaus geht und verbindend und verbindlich wird, also andere berührt. Das ist, glaube ich, das Entscheidende, auch in der derzeitigen Identitätsdebatte, die die Authentizitätsfrage geradezu banal ins Spiel bringt und nur jenen ein Verstehen zubilligt, die mit dem Autor oder der Autorin deckungsgleiche Merkmale von Kultur, Hautfarbe, Geschlecht usw. vorweisen können. Solche Kriterien missachten eine der wichtigsten Fähigkeiten von Literatur und Kunst, nämlich die Empathie und die Kraft der Vorstellung, die uns weit über den eigenen Horizont hinaus trägt. Auch davon leben die Figuren, die die Literatur darstellt und herstellt. Aber sie sind immer fiktionalisiert, selbst wenn sie von realen Personen ausgehen. <BR /><BR /><BR /><b>Wie kommen Sie zu diesen erdigen, stolzen, bäuerlichen Figuren?</b><BR />Vescoli: Es sind die Figuren, die ich aus der Geschichte meiner Mutter, der ich nachgehe, ziehe, es sind die Menschen, mit denen meine Mutter aufgewachsen ist und mit denen sie lange Zeit gelebt hat. Keineswegs sind es nur stolze Bauern, sondern auch Habenichtse und Kleinhäusler, die in meinem Buch eine Rolle spielen. Sie kommen aus der Geschichte unseres Landes. Das ist eine Welt, die gekennzeichnet ist von sehr strengen patriarchalen und katholischen Gesetzen, die tief verwurzelt und verinnerlicht worden sind. Wie tief diese Prägungen sitzen und über Generationen weiter getragen werden, auch wenn es nicht so scheint und wenn mittlerweile Wohlstand, Bildung und Moderne unsere Gesellschaft prägen, hat sich mir gezeigt. Aber auch, wie weit zurück andere Erfahrungen liegen, etwa die der Armut oder des Hungers. Die sind uns fremd, aber meine Mutter und Großmutter wussten noch, was Hunger ist. <BR /><BR />Und doch geht das eine mit dem anderen zusammen, die völlige Fremdheit einer Erfahrung und die Spuren davon, die gar nicht als solche erkennbar sind. Das ist wie die Anwesenheit einer Abwesenheit oder Abwesenheit einer Anwesenheit. Sie verrät, wer wir auch sind und dass wir durch den Reichtum, der manchmal den Hals nicht voll kriegen kann, nicht völlig andere geworden sind; dass wir gar nicht so chic und cool sind, wie wir tun, und dass wir bei all den schnellen Erfolgen gar nicht so fortschrittlich sind, wie wir vorzugeben uns bemühen. Das harte Leben, samt seinen Nöten und Grausamkeiten, ist nicht so weit her. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1003637_image" /></div> <BR /><BR /><b>„Mutternichts“ ist belebt von poetischen und einprägsamen Bildern. Können Sie uns etwas über Ihre Bildersprache und Ihr offenes Bilderdenken sagen?</b><BR />Vescoli: Ich kann sagen, dass ich in Bildern denke und schreibe, ohne dass ich im Schreiben darüber nachdenke. Die Bilder kommen von selbst, aus einer Lust und Fantasie. Meine Empfindungen und mein Kopf werfen sie auf wie Maulwurfhügel. Sie sind einem Gedanken oder einem Gefühl oft näher als eine deskriptive oder begriffliche Formulierung. Sie bewegen sich und bewegen das Schreiben. Ich liebe sie. <BR /><h3> Zur Person</h3><BR />Christine Vescoli wurde 1969 in Bozen geboren, studierte Deutsche Literatur und Kunstgeschichte in Wien. Sie ist tätig als Publizistin, im Lektorat und unterrichtet seit vielen Jahren Deutsch an Gymnasien. Seit 2009 leitet sie Literatur Lana und lädt als Kuratorin der Literaturtage Lana Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Herta Müller, Ruth Klüger, Marlene Streeruwitz, Swetlana Alexijewitsch, George-Arthur Goldschmidt, Marcel Beyer, Jan Assmann, Péter Nádas etc. nach Südtirol ein. Sie verfasst literarische und literaturkritische Texte; zuletzt erschien „Was für Sätze. Zu Ilse Aichinger“, herausgegeben mit Theresia Prammer (Wien 2023).Christine Vescoli hat 2 erwachsene Kinder und lebt in Bozen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1003640_image" /></div> <BR /><BR /><b>Buchtipp:</b><BR />„Mutternichts“, Christine Vescoli, Otto-Müller- Verlag 2024, 180 Seiten<BR /><BR /><BR /><b>Lesungen:</b><BR /><b>7. März,</b> 18 Uhr, Museion Bozen. Musik: Helga Plankensteiner. Zusammenarbeit mit TANNA <BR /><b>13. März,</b> 18.30 Uhr, Stadtbi- bliothek Brixen. Zusammenarbeit ZeLT und „heimat BBP“