Bis dahin galt für die DDR das, was Kremlchef Leonid Breschnew SED-Erich Honecker in Moskau mit seltener Offenheit klargemacht hatte, nämlich was „Partnerschaft im Bruderbund“ bedeutete. <BR />Breschnew: „Wir haben doch Truppen bei Euch. Erich, ich sage Dir offen, vergesse das nie: Die DDR kann ohne uns, ohne die Sowjetunion, ihre Macht und Stärke, nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR.“ Mit anderen Worten: Solange es die Sowjetunion geben würde, würde es auch eine DDR geben. Das wurde 1953 demonstriert, als sowjetische Panzer den Volksaufstand niederwalzten, und auch 1961, als mit Zustimmung Moskaus die Mauer gebaut wurde, um das Ausbluten der DDR zu verhindern. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1094775_image" /></div> <BR />Dann kam 1985: Michail Gorbatschowwurde Parteichef in Moskau. Es begann eine neue Ära in der Sowjetunion und damit auch in den internationalen Beziehungen. Der von Gorbatschow eingeleitete Systemwandel – Glasnost und Perestroika – kam jedenfalls zu spät, geriet schon bald außer Kontrolle.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1094778_image" /></div> <BR />Es begann in Polen mit der Gewerkschaft Solidarnosc und einem polnischen Papst – und setzte sich dann in Ungarn mit weitreichenden Konsequenzen für die DDR fort. Im Juni 1987 hatten Jugendliche in Ost-Berlin in Sprechchören den Abriss der Mauer gefordert und Gorbi-Rufe skandiert, während als erste Reaktion der DDR-Führung sowjetische Filme in der DDR verboten wurden. Höhepunkt dieser Entwicklung war das Verbot der kritischen sowjetischen Monatszeitschrift „Sputnik“ im November 1988. Dazu passte die viel zitierte Äußerung von SED-Politbüromitglied Kurt Hager, dass, wenn der Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, man sich nicht verpflichtet fühlen müsse, die eigene Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren. In der gestörten Selbstwahrnehmung der SED-Spitze verschwamm die Realität, sodass die Parteispitze offenbar wirklich glaubte, mit Verboten und einer Anti-Gorbatschow-Kampagne Diskussionen in der Bevölkerung zu beenden. Das war ein fataler Irrtum, wie sich schon bald zeigen sollte. <BR /><BR />Die DDR war wirtschaftlich bereits am Ende; sie hatte von der Substanz gelebt; als die verbraucht war, fiel der sogenannte „erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ wie ein Kartenhaus in sich zusammen, weder zur Reform bereit noch fähig und verfügte auch nicht mehr über materielle Ressourcen, um dem wachsenden Unmut in der Bevölkerung zu begegnen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1094781_image" /></div> <h3> Die Flucht über Ungarn</h3><BR />Es war Ungarn, das den Stein ins Rollen brachte. Was den DDR-Bürgern verwehrt wurde, erhielten die Ungarn ab dem 1. Januar 1988: einen Reisepass, mit dem sie reisen konnten, wohin sie wollten. Der Eiserne Vorhang war sinnlos geworden. Im März 1989 trat Ungarn als erstes Ostblockland der Genfer Flüchtlingskonvention bei. Und die besagt: keine Rückführung politischer Flüchtlinge. Und am 2. Mai 1989 begannen ungarische Grenzsoldaten mit der Beseitigung des Stacheldrahtverhaus an der Grenze zu Österreich – und das vor laufenden Fernsehkameras. Am 27. Juni wurde das in einem symbolischen Akt von Ungarns Außenminister Horn und Österreichs Außenminister Mock in einer feierlichen, freilich nur noch symbolischen Aktion wiederholt, indem sie die hässlichen Drähte eigenhändig durchschnitten. Diese Bilder in den westlichen Medien bekamen die DDR-Bürger zu sehen – und dann setzte der Ansturm von DDR-Touristen nach Ungarn ein.<BR /><BR />Das berühmte paneuropäische Picknick am 19. August 1989 in der Nähe der Stadt Sopron wurde dann die nächste Station auf dem Weg zum Niedergang der DDR. 661 DDR-Bürger nutzten die Veranstaltung zur Flucht nach Österreich. <BR /><BR />Am 2. Mai hatte jemand beim Durchschneiden des Grenzzaunes gesagt: „Damit ist die Mauer gefallen, sie weiß es nur noch nicht.“ Die Erkenntnis kam näher, als die ungarische Regierung am 22. August den Grundsatzbeschluss fasste, die DDR-Deutschen ziehen zu lassen. Binnen 24 Stunden nutzten damals 10.000 DDR-Bürger die Fluchtmöglichkeit in den Westen; bis Ende September waren es bereits 32.500.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1094784_image" /></div> <h3> Sonderzüge aus Prag</h3><BR />Inzwischen füllte sich die bundesdeutsche Botschaft in Prag mit DDR-Flüchtlingen. Wir kennen jene Bilder, wo in Prag die Menschen über den Zaun des Botschaftsgeländes kletterten. Die SED-Führung schlug den Prager Genossen den Bau einer Mauer um die Botschaft vor: Prag lehnte ab. Und dann kam jener berühmte Halbsatz vom deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der Botschaft: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre…“. Der Rest ging bekanntlich im Jubel der DDR-Bürger unter. Verriegelte Sonderzüge brachten die Flüchtlinge über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik. Geleise und Bahnhöfe in der DDR waren geräumt worden, damit keine Menschen aufspringen konnten. Am Hauptbahnhof von Dresden kam es dennoch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Stasi und rund 3000 Menschen.<BR /><h3> „Wir sind das Volk!“</h3><BR />In dieser Situation liefen wie geplant die Feiern zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung. Während die SED-Funktionäre am 7. Oktober im Palast der Republik feierten, ging die Stasi wieder brutal gegen Demonstranten vor. Zwei Tage später fand in Leipzig die größte Demonstration seit dem 17. Juni 1953 statt: auf der<?O_Fett><?_O_Fett> Montagsdemonstration skandierten ca. 75.000 Teilnehmer <Kursiv>„Wir sind das Volk!“</Kursiv> Einer solchen Menschenmenge war die Stasi nicht gewachsen; die Sicherheitskräfte griffen nicht ein. Genau um 18.35 Uhr am 9. Oktober 1989 verzeichnete ein Protokollant des Ministeriums für Staatssicherheit: „Vorbereitete Maßnahmen zur Verhinderung/Auflösung kamen entsprechend der Lageentwicklung nicht zur Anwendung.“<BR /><h3> Das Missverständnis</h3><BR />Am 18. Oktober wurde Erich Honecker abgesetzt, Egon Krenz sein Nachfolger. Am 4. November kam es zur größten nicht staatlich organisierten Demonstration in der Geschichte der DDR. Auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin forderten hunderttausende DDR-Bürger – die Veranstalter sprachen von 1 Million – Reformen und Reisefreiheit. Am 9. November beschloss das Politbüro dann zwar ein Reisegesetz, allerdings war das keine generelle Reisefreiheit, da gleichzeitig Durchführungsbestimmungen für die Pass- und Meldestellen der Volkspolizei vorbereitet wurden. Einem sofortigen Aufbruch aller DDR-Bürger schien damit ein wirksamer Riegel vorgeschoben. Als Sperrfrist für die Veröffentlichung des Reisegesetzes wurde der 10. November, 4 Uhr, festgesetzt. <BR /><BR /><BR />Auf dem Weg zu der für 18 Uhr angesetzten internationalen Pressekonferenz an diesem 9. November überreichte Krenz SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski einen Zettel mit der entsprechenden Pressemitteilung und der Bemerkung, die Presse zu informieren. Schabowski steckte den Zettel unbesehen in seine Mappe. Genau um 18.57 Uhr versetzte er im Pressezentrum in der Mohrenstraße vor laufenden Fernsehkameras der SED-Herrschaft aus Unkenntnis den Gnadenstoß – als Ergebnis eines grandiosen Missverständnisses.<BR /><BR /><BR />Schabowski war nicht dabei gewesen, als das Politbüro die Reiseverordnung verabschiedet hatte. Er kannte weder den Wortlaut des Papiers, noch wusste er etwas von einer Sperrfrist, die auch Krenz nicht erwähnt hatte. Er ging im Gegenteil davon aus, dass die Pressemitteilung bereits verbreitet worden war.<BR /><h3> „Sofort, unverzüglich“</h3><BR />Am Ende dieser Pressekonferenz geschah es dann: Der italienische Korrespondent Riccardo Ehrmann fragte nach dem Entwurf für das Reisegesetz. Was dann kam, ist inzwischen oft im Fernsehen gezeigt worden: Schabowski wühlte in seinen Papieren und teilte mit, das ZK habe beschlossen, „...heute... äh... eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, ...äh ...über Grenzübergangspunkte ...äh ...auszureisen“.<BR /><BR /><BR />Bild-Reporter Peter Brinkmann hakte nach: „Wann tritt das in Kraft?“ Schabowski blätterte wieder in seinen Papieren und antwortete: „Das tritt nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich [blättert weiter in seinen Unterlagen] ... [leise] ... unverzüglich.“ In dem folgenden Stimmengewirr murmelte er zweimal resigniert: „Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.“<BR /><BR /><BR />Während einige Journalisten eilig den Raum verließen, stellte jemand die Frage: „Herr Schabowski, was wird mit der Berliner Mauer jetzt geschehen?“ Schabowski wies darauf hin, dass es 19 Uhr und die Pressekonferenz damit beendet sei.<BR /><h3> „Wir fluten jetzt“</h3><Kursiv><BR /><BR />„Sofort“</Kursiv> und „unverzüglich“. Das waren die Signalworte, mit denen die Nacht der Nächte begann. Die Pressekonferenz war live im DDR-Fernsehen übertragen worden; entscheidend wurde jetzt aber die Berichterstattung in den westdeutschen Medien. Tausende Ostberliner machten sich auf den Weg zur Mauer, um zu sehen, was los war. Die Grenzsicherungsorgane wurden völlig überrascht und blieben zunächst ohne Befehle. Einer kam dann doch: die Auffälligsten rauslassen – mit Stempel im Pass, der bedeutete (was nur die Grenzer wussten): keine Wiedereinreise. Aber es war zu spät. Fassungslos und von der ahnungs- und hilflosen Führung im Stich gelassen, wichen sie den Massen. Was sie jahrelang gesichert hatten, war nicht mehr. Dann trafen sie eine kluge Entscheidung. Genau um 23.14 Uhr stellten sie in der Bornholmer Straße alle Kontrollen ein. „Wir fluten jetzt!“ kündigte der leitende Offizier an. Dann wurde der Schlagbaum geöffnet.<BR /><BR />Anders als beim Volksaufstand 1953 blieben die sowjetischen Panzer in der DDR auf Befehl Gorbatschows in den Kasernen. Am selben Tag schrieb Gorbatschows außenpolitischer Berater Tschernajew in sein Tagebuch: „Die Mauer ist gefallen. Das ist das Ende des Sozialismus.“ Es sollte auch das Ende der DDR sein. 11 Monate später war Deutschland wiedervereint. Und da fingen die Probleme richtig an. Einige sind bis heute nicht gelöst.<BR /><BR /><BR />Zur Person: Rolf Steininger war langjähriger Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1094787_image" /></div> <BR /><BR /><b>Buchtipp:</b> Rolf Steininger, Von der Teilung zur Einheit: Deutschland 1945-1990, Studienverlag, Innsbruck 2020, 515 Seiten <BR /><BR /><BR /><BR /><b>Fernsehtipp:</b><BR /> In der von Professor Steininger für das deutsche Fernsehen (ARD) produzierten Serie „Bonner Republik“ ist für den Mauerfall die Folge 5 relevant, abrufbar auf www.rolfsteininger.at.