Es gibt Dinge, die wir jetzt in unsere neue Normalität integrieren können und sollen – gerade wenn Ängste und Sorgen ins Spiel kommen.<BR /><BR /><BR /><b>Frau Cagol, die lang ersehnte Normalität kommt zurück – und jetzt zögern viele. Beispielsweise ein Kaffee mit jemandem, der als enge Kontaktperson gilt, ist gesetzlich möglich. Der Kopf aber spielt noch nicht ganz mit. Warum?</b><BR />Sabine Cagol: Wir haben zu lange vermittelt bekommen: Corona ist gefährlich. Wir haben eine Weile gebraucht, zu lernen, bei Gefahr gegen unseren menschlichen Instinkt – nämlich Zusammenkuscheln – zu handeln. Wir wurden auf Distanz getrimmt. Das kann man nicht auf Knopfdruck wieder abstellen, auch das wird wieder Zeit brauchen. Wir müssen uns vor Augen halten, dass man bestimmte Dinge zwar laut Gesetz jetzt darf, aber wir müssen in uns hineinhören und spüren, was sich für uns richtig anfühlt. Der eine hat mehr, der andere weniger Ängste. Wir sind aufgefordert, viel Respekt zu haben.<BR /><b><BR />Es ist aber recht leicht, sich in Zeiten wie diesen einfach „falsch“ zu fühlen in seinen Entscheidungen.</b><BR />Cagol: Es gibt aber kein richtig und kein falsch. Es geht jetzt einfach darum, die Bedürfnisse des anderen anzunehmen und zu respektieren. Es gibt Leute, die fühlen sich in der Gruppe mit Maske sicherer, sie möchten lieber neben dem Fenster sitzen. Psychologisch gesehen ist es spannend, die Gruppenkompetenz zu beobachten, zu sehen, wie die Bedürfnisse der unterschiedlichen Menschen respektiert werden. <BR /><BR /><b>Alle Bedürfnisse bekommt man sowieso nicht unter einen Hut.</b><BR />Cagol: Dessen müssen wir uns auch bewusst sein. Und Sorgen und Angst können nicht rational betrachtet werden. Die Risikoeinschätzung der Menschen ist a priori verzerrt. Jemand, der in seinem Bekanntenkreis mehrere Krebspatienten hat, schätzt das Risiko einer Erkrankung höher ein als jemand, der keine Krebspatienten kennt. Dabei liegen Statistiken und Inzidenzen vor. Es braucht einfach viel Verständnis, wenn Ängste und Sorgen ins Spiel kommen, es braucht den Dialog. Wir müssen lernen, die eigenen Bedürfnisse zu benennen. Beispielsweise auch das Bussi-Bussi-Ritual. Viele mögen das nicht. Auf Beziehungsebene kann eine Ablehnung natürlich falsch verstanden werden. Ich denke aber, jetzt ist ein guter Moment, über das eigene Nähe- oder Distanzbedürfnis nachzudenken und es auszusprechen. <BR /><BR /><b>Ist denn die Normalität, die wir jetzt bekommen, wieder „unsere“ Normalität, jene von vor Corona?</b><BR />Cagol: Nein, die werden wir nie mehr wieder bekommen. Wir haben durch Corona viel gelernt. Wir haben gesehen, welche Auswirkungen ein Virus auf das System, die Gesellschaft, Beziehungen und die Kommunikation haben kann. Es gibt Dinge, die wir jetzt in unsere neue Normalität integrieren können und sollen. Beispielsweise Themen wie Smart Working oder die ganze digitale Kommunikation, wir haben gesehen, dass es vielleicht nicht all diese Reisen braucht – auch der Umwelt zuliebe. Wir können verschiedene Dinge, die wir in den letzten 2 Jahren gelernt haben, in ein neues Selbstverständnis aufnehmen. Die ganzen neuen Dinge sind nicht nur schlecht. Krisen bieten Chancen zur Entwicklung, zur Weiterentwicklung. Natürlich tragen die Dinge, die wir kennen und immer hatten, zu unserem Sicherheitsgefühl teil. Es ist menschlich, Dinge so zu tun, wie man es gewohnt ist. Aber es wird nun einfach Dinge geben, die zum Alltag gehören wie Masken in bestimmten Situationen oder das Smartphone, ohne das man das Haus nicht mehr verlässt. <BR /><BR /><b>Die Bedürfnisse anderer wollen aber sehr viele Menschen nicht wahrnehmen oder hören. Corona hat viele auch aggressiver gemacht.</b><BR />Cagol: Das mag stimmen. Aber es ist doch so, dass wir nicht sagen können: So, jetzt sind die Tore offen, wir können tun wie wir wollen. Wir müssen selber unser Hirn einschalten, unseren Hausverstand benutzen. Jeder sollte sich fragen: Was ist für mich wichtig, damit ich mich sicher fühle? Es gibt Menschen, die können es kaum erwarten, auf ein großes Konzert zu gehen, für andere käme das überhaupt nicht in Frage. Keiner liegt falsch. Es ist nur wichtig, dass wir das mitnehmen, was wir durch Corona gelernt haben sollten: Unser Verhalten hat nicht nur für mich, sondern für die Gesellschaft Konsequenzen. Nur weil etwas erlaubt ist, habe ich eben nicht freie Bahn. Wir müssen Verantwortung für uns und für die anderen übernehmen, diese viel zitierte Eigenverantwortung. Einerseits rebellieren wir gegen harte Regeln, andererseits verlangen wir, dass die Pandemie perfekt gemanagt wird und dass alles funktioniert – dafür braucht es eben Regeln. Würde aber die Selbstverantwortung immer funktionieren, bräuchte es all diese Regeln nicht. Das zeigt eben wieder, dass die Menschen Regeln brauchen, dass diese ihnen Sicherheit geben. <BR /><BR /><b>Wenn die Regeln nach und nach fallen, werden auch die Klüfte in der Gesellschaft immer sichtbarer – z.B. zwischen Geimpften und nicht Geimpften.</b><BR />Cagol: Ja, das wird harte Arbeit, das aufzuarbeiten. Es gibt jetzt schon Teams, in denen hart diskutiert wird. Für die Gruppendynamik ist die Impfpflicht beispielsweise eine Katastrophe – die einen sind suspendiert, die anderen schieben Überstunden. Da ist viel Arbeit zu tun, damit diese Teams wieder funktionieren.