<b>In Ihrer Funktion als Leiter des diözesanen Dienstes für den Schutz von Minderjährigen haben Sie den Stein erst ins Rollen gebracht. Waren Sie überrascht von den Ergebnissen des Berichts, die jetzt vorliegen?</b><BR /> Gottfried Ugolini: Die Ergebnisse sind eine Bestätigung unserer Arbeit und kamen nicht überraschend. Manche Fälle waren mir schon bekannt. Die Münchner Rechtsanwaltskanzlei, die den Bericht erstellt hat, hat die Archive der Diözese durchforstet. Jene der Ordensgemeinschaften waren aber nicht Teil der Untersuchung. <BR /><BR /><embed id="dtext86-68264759_quote" /><BR /><BR /><b>Wird es irgendwann einen Blick hinter die Klostermauern geben?</b><BR />Ugolini: Das ist durchaus möglich. Ich glaube, dass ein oder 2 Ordensgemeinschaften bereits Interesse daran bekundet haben. Es obliegt natürlich der Zuständigkeit und Verantwortung der einzelnen Ordensgemeinschaften, ob sie ein solches Gutachten in Auftrag geben. Die Diözese kann nicht über sie verfügen, sie sind selbstständig. Da einige von ihnen – in der Vergangenheit und auch heute noch – Schulen, Internate und Heime im Land leiten, wäre es empfehlenswert. <BR /><BR /><embed id="dtext86-68264934_quote" /><BR /><BR /><b> Laut Gutachten hatten Sie keinen Zugang zu den Akten. Inwieweit hat dies Ihre Arbeit als Leiter der Dienststelle erschwert?</b><BR />Ugolini: Die Akten werden von Generalvikar Eugen Runggaldier aufbewahrt. Wenn es nötig ist, gibt er mir bestimmte Informationen, z. B. wenn in der Vergangenheit eine Betroffene wissen wollte, ob sie die Einzige war oder ob noch andere Menschen von einem Priester sexuell missbraucht wurden. <BR /><BR /><b>Es gab Kritik, dass die Diözesanleitung lange gezögert hat, den Bericht in Auftrag zu geben. Wie sehen Sie das?</b><BR />Ugolini: Das stimmt. Es hat einen längeren Anlauf gebraucht. Aber im Nachhinein betrachtet war das notwendig. Es musste Klarheit und Verständnis darüber herrschen, was das Ziel ist und wie man vorgehen will. Die Bedenken, die es gab, waren berechtigt. Wenn man ein solches Gutachten in Auftrag gibt, gibt es immer gewisse Befürchtungen. Wie stehen wir dann da? Müssen wir uns als Kirche verteidigen oder rechtfertigen? Risikobereitschaft war gefragt. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1121097_image" /></div> <BR /><b>Ändert sich jetzt etwas durch die Veröffentlichung dieses Gutachtens? </b><BR />Ugolini: Absolut. Jetzt gibt es Klarheit: Wir haben schwarz auf weiß die Fälle von sexuellem Missbrauch in unserer Diözese beschrieben: die Betroffenen, die Zeiträume, die Orte. Wir können davon ausgehen, dass es in den Archiven der Diözese nichts mehr zu verbergen gibt. Das ist jetzt geklärt. <BR /><BR /><b>Was erhoffen Sie sich noch?</b><BR />Ugolini: Frauen und Männer, die sexuell missbraucht wurden, sollen durch den Bericht ermutigt werden, sich zu melden. Es wird über Missbrauch gesprochen, Betroffene erleben, dass sie gehört und ernst genommen werden. Es gibt Hilfe. Menschen, die von Priestern oder Ordensleuten missbraucht wurden, können sich an die diözesane Ombudsstelle wenden, die von einer unabhängigen Person geleitet wird. <BR /><BR /><embed id="dtext86-68265000_quote" /><BR /><BR /><b><BR />Weil die Dunkelziffer hoch ist?</b><BR />Ugolini: Das ist nur die Spitze des Eisberges. Wir wissen aus anderen Untersuchungen, dass die im Bericht genannten Zahlen nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden. Die Archive der Ordensgemeinschaften wurden nicht einbezogen, manche Betroffene wollen nicht über den schrecklichen Vorfall sprechen, andere sind gestorben. Wir vermuten auch eine hohe Suizidrate. <BR /><BR /><b>Vertreter von kirchlichen Verbänden, aber auch Einzelne aus der Kirche selbst fordern jetzt konsequentes Handeln. Stimmen Sie dem zu?</b><BR />Ugolini: Sonst hätten wir das Gutachten nicht in Auftrag gegeben. Jetzt braucht es konkrete und überprüfbare Konsequenzen. Das Gutachten ist ein erster Schritt im Projekt „Mut zum Hinsehen“. Das Projekt besteht aus mehreren Phasen. In der ersten Phase geht es um Aufklärung, der Erhebung von Daten und das Gutachten, das von einer unabhängigen Rechtsanwaltskanzlei erstellt wurde.<BR /><BR /><embed id="dtext86-68265003_quote" /><BR /><BR /><b><BR />Was sind die nächsten Schritte?</b><BR />Ugolini: Jetzt beginnt die Phase der Aufarbeitung, danach folgt die Phase der Prävention, in der es um die Frage geht, was verändert und beachtet werden muss, damit alle Orte und Programme der Kirche den Schutz von Kindern und Jugendlichen gewährleisten.<BR /><b><BR />Aus dem Bericht geht hervor, dass es nicht nur Fälle in der Vergangenheit gab, sondern auch einen aktuellen, und zwar im Zeitraum von 2015 bis 2019. Wie wird mit diesem umgegangen?</b><BR />Ugolini: Die zuständigen Verantwortlichen der Diözese werden sich den Fall genau anschauen und die notwendigen kirchen- und verwaltungsrechtlichen Schritte prüfen. Der Fall muss in der betroffenen Pfarrgemeinde aufgearbeitet werden. Soweit nicht schon geschehen, wird es auch für den Beschuldigten Konsequenzen geben.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1121100_image" /></div> <BR /><b>Bozen-Brixen legt als erste Diözese in Italien einen Missbrauchsbericht vor. Ein Pilotprojekt? </b><BR />Ugolini: So war das nicht gedacht. Unsere Diözese macht jetzt ihre Hausaufgaben. Die Missbrauchsfälle sind zahlreich und es war an der Zeit, das Projekt „Mut zum Hinsehen“ zu starten. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Menschen und wollen auf eine Zukunft hinarbeiten, in der solche Vorfälle nicht mehr passieren. Ich wünsche mir, dass auch andere Diözesen in Italien diesen Mut haben und klare Zeichen setzen. <BR /><BR /><b>Sie sind auch Beauftragter der Kirche im Bereich Prävention. Wie gehen Sie persönlich damit um?</b><BR />Ugolini: Es ist meine Aufgabe, für Menschen da zu sein und dazu beizutragen, ihr Leid zu lindern. Ich bin ein hoffnungsvoller, glaubender, betender Mensch. Ich freue mich an der Natur, und wenn es den Menschen nach schweren Zeiten wieder besser geht.