„Frei zu gehen, wo andere ihr Leben verloren“ – hier die Tagebucheinträge von Redakteur Jakob Pramstaller.<h3> Die Schatten der Vergangenheit sind nicht mehr fern</h3>Mühsam öffne ich die Augen. Durch die Fensterscheiben fällt fahles Morgenlicht, der blaue Himmel versteckt sich hinter dunklen Wolken. Ein Vorgeschmack auf den düsteren Ort, an den wir uns begeben? Schnell werde ich aus meinen Gedanken gerissen, denn erneut knirscht das Mikrofon. Es ertönt eine verzerrte, raue Stimme: „Guten Morgen.“ Mehr ist kaum zu verstehen, der knarzende Lautsprecher unseres Reisebusses verschlingt fast jedes Wort. Ich vermute, es war Simone, Fotograf und Tutor der Gruppe C, der sprach. Die Reisenden um mich herum erwachen langsam aus tiefen Träumen zum Leben. Die Uhr zeigt kurz vor 9 Uhr, Krakau dürfte nicht mehr fern sein.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1131621_image" /></div> <BR /><BR />Die Luft im Bus ist stickig von der langen Fahrt, die hinter uns liegt. Knapp 14 Stunden sind wir unterwegs, als 2 der Tutorinnen in den oberen Stock des Doppeldeckers steigen, um sich durch den engen Gang zwischen den Sitzen zu quetschen und von allen Teilnehmenden die vom Hostel verlangten 20 Euro an Kaution zu kassieren. Ihre Namen habe ich schon wieder vergessen, zu viele Menschen habe ich innerhalb der kurzen Zeit kennengelernt.<BR /><BR />Die Stimmung unter den Reisenden scheint nach wie vor bestens – kein bisschen schlechter, als sie es noch am Vorabend bei der Verabschiedung in Bozen war. Hin und wieder hallt Gelächter durch den Raum. Die einen sind lauter, andere in sich gekehrt. Wie lange dies wohl noch so bleiben wird? Es wartet ein prägendes Erlebnis, das uns für den Rest unseres Lebens begleiten wird. Lehrreich allemal, aber nichts für jedermann.<BR /><BR />Interessiert erkundige ich mich bei den Jugendlichen, was sie auf diese besondere Reise treibt. Mit hohen Erwartungen blickt einer der Teilnehmenden auf die kommenden Tage. „Ich will nicht nur aus den Büchern lernen, sondern die Geschichte mit eigenen Augen sehen“, erzählt er mir. Das Erlebnis werde wohl erschreckend sein, aber wichtig, weshalb es sich zu überwinden gelte, erzählt mir ein anderer. „Sobald ich wieder zu Hause bin, möchte ich meine Eindrücke weitergeben“, sagt er. Vor uns liegen u.a. die Besichtigung des jüdischen Ghettos, der Schindler-Fabrik und zu guter Letzt des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Noch hält sich das mulmige Gefühl unter den Reisenden aber in Grenzen.<h3> Ein Rundgang zwischen bedrückend und beeindruckend</h3>Klirrende Kälte in Krakau, die Temperaturen sind über Nacht unter den Gefrierpunkt gesunken. Sanft rieseln dicke Schneeflocken vom Himmel und befeuchten die leer stehenden Stühle. In der Luft liegt eine gespenstische Ruhe. Wir befinden uns auf dem Platz der Ghetto-Helden, dem Herzstück des ehemaligen jüdischen Ghettos von Krakau. Hier soll die heutige Reise der Gruppe E, deren Teil ich nun bin, beginnen.<BR /><BR />Als ich den Regler nach oben drehe, dringt die Stimme der Reiseleiterin durch die veralteten, schwarzen Kopfhörer in mein Ohr, unterbrochen von einem störenden Rauschen. Ich trete näher, ihre Stimme wird klarer. „Die Stühle symbolisieren die Möbelstücke, die jüdische Opfer zurücklassen mussten.“ Ein Mahnmal, das eindringlich an die vielen verlorenen Menschenleben erinnert. Ein einziger Blick in die Menge verrät alles: Es ist stiller geworden, viel stiller als noch bei der Anreise im Bus – gespannt lauschen wir den packenden Worten der Erzählerin.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1131624_image" /></div> <BR />Zeit, loszugehen. Zum Glück, denn die beißende Kälte ist kaum auszuhalten. In mir löst dieser einst so grauenhafte Ort ein beklemmendes Gefühl aus, das Schritt für Schritt stärker wird. Der Verkehr zieht durch die Straßen, Menschen gehen ihren Geschäften nach und in den Fenstern spiegelt sich das alltägliche Leben wider. Man möchte meinen, der friedliche Schein trügt.<BR /><BR />Plötzlich bleibt die Reiseleiterin stehen, unterbricht den bedrückenden Rundgang. „Vor uns sehen wir die Fabrik Oskar Schindlers.“ Mit diesen Worten lässt sie mich aus meinem Tagtraum erwachen – vor mir ragt ein trostloses, weiß-graues Gebäude empor. Ich betrete es, das seltsame Gefühl bleibt bestehen. Entlang der Gänge finden sich Relikte, die mehr verraten als tausend Worte: Fotografien, Uniformen und Waffen – einmal begleitet vom Geheul der Sirenen, ein andermal von einer Rede aus der Nazizeit. In Oskar Schindlers Büro kehrt Ruhe ein.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1131627_image" /></div> <BR />Noch immer unschlüssig darüber, ob die ehemalige Wirkungsstätte Schindlers beeindruckend oder bedrückend ist, schreiten wir gemeinsam voran. Vorbei an der ältesten Synagoge Krakaus und einem jüdischen Friedhof bis hin zum jüdischen Zentrum. An dessen Eingang sticht ein grünes Plakat ins Auge: „Wir bauen eine jüdische Zukunft in Krakau auf“, steht unübersehbar in Weiß darauf geschrieben. Der Blick in die düstere Vergangenheit ist unvermeidlich, doch genauso zwingend ist der positive Blick nach vorn.<h3> Auge in Auge mit der Vernichtung: Ein Besuch im KZ Auschwitz</h3>Unter den Reisenden herrscht Stille. Nur der dumpfe Hall der Schritte und die Durchsage des Lautsprechers durchbrechen die unheimliche Ruhe: „Agnes Friedeberg, Josef Beck, Dawid Niemrzynski.“ Ringsum nichts als meterhohe, kalte Betonwände, bis endlich das Ende des Tunnels in Sicht ist. Hier drinnen scheint die Zeit langsamer zu vergehen, 5 Minuten gleichen einer Ewigkeit.<BR /><BR />Als wir den Tunnel hinter uns lassen, öffnet sich vor unseren Augen ein zuerst unscheinbar wirkender Platz. Kahle Bäume ragen in den Himmel, eine dünne Schicht aus Laub und Schnee bedeckt den Boden. Vor uns türmen sich verlassene, rotbraune Backsteinhäuser auf, die ein dunkles Geheimnis zu verbergen scheinen. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als mir bewusst wird, wo ich mich gerade befinde: im Konzentrationslager Auschwitz.<BR /><BR />Umringt von dichtem Stacheldraht sehe ich nach wenigen Schritten das Lager-Tor vor mir. Darüber in eisernen Buchstaben festgeschrieben „Arbeit macht frei“, eine zynische Lüge. Hinter dem Drahtzaun hindurch, zwischen den Reihen der Backsteinhäuser, folgen wir der Fremdenführerin in ein erstes Gebäude. Der rote Boden ist von Rissen durchzogen, die schmutzigen grauweißen Wände sind von der Zeit gezeichnet. Das Fenster bietet nicht mehr als einen trüben Blick auf das nebenstehende Gebäude, das ebenso trostlos erscheint. Mit wackeligen Beinen steige ich über die Treppen in den oberen Stock.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1131630_image" /></div> <BR />„Fotos sind in diesem Raum verboten“, erklingt die Stimme der Fremdenführerin durch die Kopfhörer. Ihre Worte rücken immer weiter weg, als ich vor einem Ausstellungsstück stehe: Hinter der Vitrine häufen sich Berge von abgeschnittenen Haaren, die den Todgeweihten vor ihrer Ermordung abgeschoren wurden – 50 Pfennig kostete ein Kilo damals. Mein Herz rast. Vorbei an zusammengeschmolzenen Brillen, jüdischen Gebetstüchern, Prothesen und Töpfen gelange ich zum Koffer von Ludwig Steinberg, einem der wenigen Holocaust-Überlebenden, sowie dem Schuh seines 8-jährigen Sohnes Amos, der im Konzentrationslager ums Leben kam. In unserer Gruppe fließen erste Tränen. Ich versuche mich – so gut es geht – zusammenzureißen.<BR /><BR />Ich blicke in Gesichter, die vielmehr betrübt als interessiert wirken – lange ist es her, dass ich ein Lächeln gesehen habe. Mit noch wackeligeren Beinen gelange ich wieder in das untere Stockwerk, vorbei an Fotos der Ermordeten und hinaus in einen Hof, dessen Präsenz unheimlich furchteinflößend wirkt. „Dies ist die Todeswand“, höre ich die Fremdenführerin sagen. Es gab Tage, da wurden 200 Menschen an dieser Wand innerhalb kürzester Zeit erschossen. Die Gräueltaten dieses Ortes nehmen eine andere, aber nicht weniger schreckliche Dimension an, als wir die Gaskammer und das Krematorium erreichen – den Ort, vor dem ich mich am meisten gefürchtet habe. In dem fensterlosen Raum, zwischen den abgenutzten, grüngrauen Wänden, wirkt der Tod nach wie vor allgegenwärtig.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1131633_image" /></div> <BR />Wir sind erleichtert, dass wir diesen Ort endlich verlassen dürfen. Der Schock ist jeder und jedem Einzelnen anzusehen. Auch mir fehlen die Worte. „Es ist erschreckend, dass diese Ereignisse erst 80 Jahre her sind“, sagt Elisabeth zu mir, als wir in den Bus einsteigen. Nächster Stopp: Birkenau.<h3> Frei zu gehen, wo andere ihr Leben verloren</h3>Als der Motor mit einem dumpfen Rattern anspringt, werde ich aus meinen tiefen Gedanken gerissen. Langsam setzt sich der Bus wieder in Bewegung. „Das Gesehene muss man sacken lassen“, meint ein Teilnehmer. Doch viel Zeit bleibt dafür nicht – die Fahrt von Auschwitz nach Birkenau dauert lediglich 5 Minuten.<BR /><BR />Auf dem Weg dorthin wirkt erneut alles so erschreckend normal, als wüsste niemand, welch unermessliches Leid sich hier vor nicht einmal 100 Jahren abgespielt hat. Wir passieren Auschwitz, eine belebte Stadt. Durch die Straßen schlängeln sich jede Menge Autos vorbei an Restaurants und Cafés. Nach all dem, was ich auf dieser Reise gesehen und gehört habe, wäre für mich ein ganz gewöhnlicher Alltag nur wenige Meter neben Orten, an denen unsägliches Leid geschehen ist, unvorstellbar. Aber: Ich bin nur Gast. Ich bin gekommen, um wieder zu gehen.<BR /><BR />Als wir den Bus verlassen, ziehen Wolken auf, es beginnt zu schneien. Vor mir erstreckt sich eine riesige Fläche, viel größer als das Stammlager Auschwitz 1. Diese unendliche Weite lastet schwer auf mir. Rundherum erblicke ich verwitterte, alte Baracken – die einen aus Holz, andere aus Backstein. Hinter zerfallenen Ruinen und den Fundamenten von Gebäuden sticht mir ein Zug-Gleis ins Auge, dem mein Blick ängstlich bis zu dessen düsterem Ende folgt. Dort steht es bedrohlich und still: das Tor des Todes. Dessen Präsenz hat etwas äußerst Furchteinflößendes an sich. Die Gleise trennen sich, genauso wie einst das Schicksal der Insassen. Eine Richtung führte in den sicheren Tod in der Gaskammer, die andere in ein Leben unter Zwangsarbeit und extremen Bedingungen. Unvorstellbar, wie grausam der Mensch sein kann.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1131636_image" /></div> <BR /><BR />Wir treten ein, der Himmel färbt sich immer grauer und verschluckt die letzte Helligkeit. In mein Gesicht weht ein eisiger Wind, während wir uns durch das Frauen- und Männerlager, das Areal der Roma und Sinti sowie jenes für Homosexuelle kämpfen, um schlussendlich die Ruinen der vielen Gaskammern und Krematorien zu erreichen. Das Ausmaß der Vernichtung ist unvorstellbar, über eine Million Menschen verloren in Auschwitz-Birkenau ihr Leben.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1131639_image" /></div> <BR />All jener gedenken wir 360 Teilnehmer des Projekts „Promemoria Auschwitz“, als wir am Ende unserer Reise das Denkmal im Vernichtungslager von Birkenau erreichen, umringt von den Trümmern der Gaskammern und Krematorien. Weiter hinten offenbart sich der Birkenwald, der fast schon friedlich wirkt, während durch ihn ein Reh stolziert. Doch in der Luft scheint nach wie vor der Geruch von Rauch zu liegen, der an das schreckliche Leid erinnert, das sich hier einst abspielte und niemals vergessen werden darf. Denn wie es der spanische Philosoph und Schriftsteller George Santayana auf den Punkt brachte: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“